Frühjahr 1991: Ich hatte das Studium aufgegeben und tagträumte von einer Karriere als Schriftsteller. Dafür bot sich Karlos Imbiss an. Mein Blick verlor sich oft im Menschengewimmel der Haupthalle des Bahnhofs, während Karlo, Ex-Boxer aus Westfalen, damit beschäftigt war, Currywürste zu braten und Flaschenbier zu servieren.
Ich dichtete den Gästen Geschichten an. Da war etwa Heiko, der triefäugige Korn- und Bier-Experte, dem ich eine abenteuerliche Vergangenheit als Fremdenlegionär schenkte. Oder die „Dicke Doris“, die ich zur besten Freundin der Nackttänzerin Josephine Baker machte. Ein weiterer Stammgast war der „halbe Hermann“. Der alte Herr hatte, wohl bei einem Unfall, den linken Arm und auch gleich die linke Gesichtshälfte verloren. Ich machte ihn zu einem Testfahrer, der nach einem missglückten Rekordversuch unkontrolliert über den ausgetrockneten Salzsee schleudert, als zerrissenes Bündel liegen bleibt und mit einem verbliebenen Auge auf seinen abgerissenen Arm starrt.
Zum Feierabend las ich Karlo manchmal eine Geschichte vor. Und eines Tages fragte er plötzlich: „Kennst Du die Frau Gabler?“ Frau Gabler kam meist gegen fünf und bestellte einen „kleinen Kaffee“, einen Espresso, den Karlo ihr stets mit einem strahlenden Lächeln über die Theke schob. „Was ist mit der?“. Karlo blickte mich verschwörerisch an. „Weißt Du, wo sie immer hingeht? Wirst sehen. Das ist eine Geschichte, die Du aufschreiben musst.“ „Warum? Was ist da so besonders?“ Aber Karlo wollte nicht damit rausrücken. Er verwies mich auf die Dame selbst. Und überhaupt: „Nu ist ja wohl erstmal Feierabend.“
Am nächsten Tag sprach Karlo sie an, erzählte ihr von einem jungen Schriftsteller, der Geschichten sucht und da könne sie ihm ja wohl helfen und er würde ihn jetzt einfach mal rüber holen. Er winkte mir zu und stellte uns vor.
„Sie schreiben also? Fragen sie nur. Was möchten sie denn wissen?“ „Karlo meinte, sie würden mir vielleicht ...?“ Sie nickte und trank den Espresso aus. „Mögen sie mich begleiten?“ Karlo nickte mir auffordernd zu, Frau Gabler hakte sich wie selbstverständlich bei mir ein und gemeinsam machten wir uns auf den, wie sich herausstellte, kurzen Weg: Unser Ziel war Gleis 15. Wir saßen eine gute Stunde auf dem Bahnsteig. Sie erzählte mir von den letzten Kriegsmonaten. Und von ihrer großen Liebe, die sie während eines Bombenangriffs kennengelernt hatte. „Er war so hübsch!“ Sie strahlte wie ein junges Mädchen, als sie das sagte. „Wir sprachen gleich über Heiraten, Kinder kriegen und die Zukunft. Damals hatte man keine Zeit zum Warten, wissen Sie. Er hatte ja auch nur ein paar Tage Heimaturlaub, dann musste er wieder an die Front.“ In Briefen malten sie sich eine gemeinsame Zukunft aus. Gleichzeitig wurden die Umstände immer chaotischer. Die Rote Armee rückte näher. „Ich hatte so eine Angst, dass wir uns nicht wiederfinden.“
Sie leisteten einen Schwur. Auf Gleis 15, dort hatten sie sich verabschiedet, dort wollten sie sich nach dem Krieg wiedersehen. Nachmittags, zwischen fünf und sechs Uhr, wollten sie dort auf den anderen warten. „Ich wurde nach Bayern verschickt. Als dann der Krieg aus war, wusste ich gar nicht, wie ich nach Hause kommen sollte!“. Monate nach Kriegsende traf sie wieder in unserer Stadt ein. Gleich am ersten Tag ging sie zum Bahnhof, fand Gleis 15 einigermaßen unversehrt, setzte sich dort auf eine Bank und wartete. „Mir war ja klar, dass er nicht sofort da sein würde. Aber schön wäre es gewesen.“
Sie baute sich ein neues Leben in Nachkriegsdeutschland auf, arbeitete als Näherin. Nachmittags, kurz vor fünf, ging sie zum Bahnhof. „Ich habe es nicht jeden Tag geschafft. Aber wann immer es möglich war, war ich da. Ich war mir so sicher, dass er kommen würde.“
Mitte der fünfziger Jahre kehrten die letzten Kriegsgefangenen aus Russland zurück. „Da wurde ich doch etwas mutlos.“ Sie sah mich mit großen Augen an. „Bald zehn Jahre hatte ich jeden Tag gewartet, zehn Jahre!“ Sie ging seltener. Nur noch einmal die Woche, dann einmal im Monat. Am Ende des Jahrzehnts schenkte ihr das Leben eine neue Liebe. „Er war sehr fleißig und ich wusste schon, dass er mich sehr lieb hatte.“, meinte sie und schickte gleich hinterher: „Ich hatte ihn ja auch lieb, natürlich.“ Dabei schlug sie die Augen nieder.
„Als er starb, wusste ich nicht viel mit mir anzufangen. Und da fand ich mich plötzlich auf Gleis 15 wieder.“. Sie lächelte entschuldigend: „Ich saß dann da und stellte mir vor, dass er doch noch kommen würde.“
Als ich gegen sechs zum Imbiss zurückkehrte, war außer dem halben Hermann kein Gast mehr da. „Und? Hab ich’s nicht gesagt?“, fragte Karlo und wartete keine Antwort ab: „Das Leben, das schreibt die dollsten Geschichten. Ist doch so! Die ganzen Jahre ist sie jeden Tag auf Gleis 15. Jeden Tag! Das muss man sich mal vorstellen. Und jetzt wieder. Jeden Tag!“ Ich nickte: „Wahrscheinlich ist er gefallen, oder? Warum sonst ist er nicht zurückgekommen?“
Ich werde diesen Moment nie vergessen. Als ich mit Karlo über den Verbleib der großen Liebe spekulierte, schob sich der halbe Hermann von seinem Hocker, stellte sein schmutziges Geschirr auf der Theke ab und sah uns mit seinem einen Auge traurig an.
Er räusperte sich und nickte: „Er ist zurückgekommen.“